Wissenschaftliche
Entwicklung durch Revolutionen
Eine Einführung in die Wissenschaftstheorie
Thomas S. Kuhns
«Die Theorie entscheidet darüber, was
wir beobachten können.» (Albert Einstein)
I. Einleitung
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Wissenschaft lange als "objektiv" gesehen
-
Mythos, mit dem im 20. Jahrhundert gründlich aufgeräumt
wurde
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Popper, kritischer Rationalismus: Wissenschaft hat Unzahl
von Tatsachen angehäuft und immer allgemeinere Theorien angehäuft
à kann sich immer besser von Vorurteilen
befreien und abergläubische Elemente ausmerzen (Flor)
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Kuhn: verwirft dieses Modell um aufgrund von Analyse der
Wissenschaftsgeschichte
II. Biographie
III. The Structure
of Scientific Revolutions (Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen)
1. Introduction
-
wissenschaftliche Gemeinschaft kommt nicht ohne eine
weltanschauliche Grundlage noch ohne Elemente des Glaubens aus
-
diese Glaubenselemente, die den Wissenschaftlern oft nicht
bewußt oder gegenwärtig sind, werden im Rahmen des Bildungsprozesses
vom wissenschaftlichen Studenten internalisiert
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wenn sich die Grundvorstellungen einer Materie fundamental
verändern, spricht Kuhn von "wissenschaftlicher Revolution"
2. The Route to Normal Science
-
Begriff der "normalen Wissenschaft":
-
«eine Forschung, die fest auf einer oder mehreren wissenschaftlichen
Leistungen der Vergangenheit beruht, Leistungen, die von einer bestimmten
wissenschaftlichen Gemeinschaft eine Zeitlang als Grundlage für ihre
weitere Arbeit anerkannt werden.»
-
beruht auf axiomatischen Systemen und Theoriegebäuden,
die in Grundlagenlehrbüchern oder Klassikern dem Anfänger dargestellt
werden
-
Bsp.: Physik des Aristoteles, Amalgest (Ptolemäus),
Principia (Newton), Chimie (Lavoisier)
-
darin dargestellte Leistung war neuartig genug, um Anhänger
zu finden, und offen genug, um Fachleute vor Anzahl ungelöster Probleme
zu stellen
-
«Leistungen mit diesen beiden Merkmalen werde ich von
nun an als 'Paradigmata' bezeichnen, ein Ausdruck, der eng mit dem
der 'normalen Wissenschaft' zusammenhängt.»
-
wie entstehen Paradigmata, und wie kommt es zu wissenschaftlichen
Revolutionen?
-
Forschung beginnt mit einer unkoordinierten, zufälligen
Sammlung bloßer Fakten
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währenddessen: verschiedene Forscher, die mit den gleichen
Phänomenen konfrontiert werden, beschreiben und interpretieren diese
verschieden
-
mit der Zeit jedoch bildet sich jedoch eine «pre-paradigmatic
school» heraus, die einen bestimmten Teil gesammelter und zu sammelnder
Fakten favorisiert
-
verschiedene vorparadigmatische Schulen wetteifern um Ansehen
-
nach Konkurrenzkampf etabliert sich eine dieser Schulen und
schafft ein Paradigma
-
«To be accepted as a paradigm, a theory must seem better
than its competitors, but it need not, and in fact never does, explain
all the facts with which it can be confronted.»
-
wenn ein Paradigma an Stärke und Anhängern gewinnt,
schwindet die Bedeutung der anderen vorparadigmatischen Schulen
-
Paradigma bildet aus Gruppen Wissenschaftsdisziplinen
-
Gründung von Gesellschaften, Institutionen und Fachzeitschriften
-
Laien finden keinen Zugang mehr
3. The Nature of Normal Science
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anfangs: Paradigma ist für Forschung erfolgversprechend
-
"Normale Wissenschaft" besteht darin, diesem Erfolg nachzustreben
-
"Mop-up operations": «Aufräumtätigkeiten
sind das, was die meisten Wissenschaftler während ihrer gesamten Laufbahn
beschäftigt, und sie machen das aus, was ich hier normale Wissenschaft
nenne.» (S. 38)
-
Natur wird in die vorgeformte und starre Schublade des Paradigma
hineingezwängt
-
normale Wissenschaft will keineswegs neue Theorien entwickeln;
Dinge, die nicht in die Schublade passen, werden zumeist ignoriert
-
aufgrund dessen werden einige Ausschnitte der Natur so tief
und detailliert erforscht, wie dies ohne das Paradigma unvorstellbar wäre
4. Normal Science as Puzzle-solving
-
Wissenschaft ist wie Rätsellösen
-
beim Rätsellösen gibt es Regeln und vorbestimmte
Lösungen
-
Ziel der Forschung ist zu entdecken, was man ohnehin zu wissen
glaubt (ansonsten: Meßfehler, Störgrößen, etc.)
-
trotzdem wagen es gelegentlich Wissenschaftler, unerwartete
Resultate zu veröffentlichen
5.
The Priority of Paradigms
-
Wissenschaftler diskutieren sehr selten, was die Lösung
eines Problems legitimiert à entweder:
sie kennen das Paradigma intuitiv, oder sie sind ohne Kenntnis davon, daß
sie Paradigma verpflichtet sind
-
in Spezialgebieten und Untergruppen einer Wissenschaft kann
es verschiedene Paradigmata geben à
eine Revolution kann stattfinden, die von anderen Untergebieten kaum beachtet
wird
6.
Anomaly and the Emergence of Scientific Discoveries
-
Wie kommt es zu Paradigmenwechseln?
-
2 Möglichkeiten: À
Entdeckung neuer Fakten (z. B. durch bessere Meßgeräte); Á
Entwicklung neuer Theorien
-
Paradigmenwechsel hat sich vollzogen, wenn vorherige Anomalien
im Erwartungsbereich der Forschung sind
-
je präziser und weitreichender Paradigma geworden ist,
desto sensibler wird es für Entdeckung von Anomalie
-
widersetzt sich wissenschaftliche Gemeinschaft in diesem
Stadium lange genug einem Paradigmenwechsel, wird die folgende Revolution
die Weltanschauung bis ins Mark erschüttern
7. Crisis and the Emergence of Scientific
Theories
-
neue Theorien werden dann entwickelt, wenn die Rätsel
der normalen Wissenschaft nicht mehr so gelöst werden können,
wie sie sollten
8.
The Response to Crisis
-
alle Krisen enden in einer der drei Möglichkeiten:
-
À Die normale Wissenschaft
ist in der Lage, mit dem Problem umzugehen à
alles wird wieder "normal"
-
Á Das Problem bleibt
bestehen, wird aber betrachtet als Resultat unvollkommener Meßgeräte
à es wird zukünftigen Generationen
überlassen
-
 Ein neuer Kandidat
für ein Paradigma erscheint, und die Schlacht um seine Anerkennung
beginnt.
-
Entwickler neuer Theorien sind zumeist sehr jung oder sehr
neu im entsprechenden Fachgebiet
9.
The Nature and Necessity of Scientific Revolutions
-
Eine wissenschaftliche Revolution ist eine Episode, in welcher
ein älteres Paradigma ganz oder teilweise durch ein neueres, inkompatibles
ersetzt wird.
-
Dieser Prozeß verläuft analog zu politischen Revolutionen.
10.
Revolutions as Changes of World View
-
während wissenschaftlicher Revolutionen werden mit den
vertrauten Meßgeräten die gewohnten Objekte in neuem Licht gesehen
-
nach der Revolution leben Wissenschaftler in einer neuen
Welt
11. The Invisibility of Revolutions
-
der historische Aspekt der wissenschaftlichen Entwicklung
wurde bisher vernachlässigt: bisher Wissenschaftsentwicklung linear
und kumulativ gesehen
12. The Resolution of Revolutions
-
anfangs wird der neue Kandidat für ein Paradigma wenig
Anhänger (mit manchmal verdächtigen Motiven) haben
-
wenn die Anhänger kompetent genug sind, werden immer
mehr Wissenschaftler bekehrt
-
schließlich verbleiben nur noch wenige, ältere
Forscher, die dann meist wissenschaftlich tot sind und letztlich aussterben
-
Inkommensurabilität
13. Progress Through Revolutions
-
Nur während der Perioden der normalen Wissenschaft ist
Fortschritt sichtbar.
-
Dieser Fortschritt liegt zum Teil im Auge des Betrachters.
-
Je breiter ein Paradigma akzeptiert ist, desto weniger wird
am Fortschritt dieser Wissenschaft gezweifelt.
IV.
Der Kuhnsche Ansatz in der Psychologie
-
Generelle Probleme des Kuhnschen Ansatzes
-
Betrachtung der Psychologie mit psychologischen Methoden...
-
«In fact, Kuhn himself used this term [paradigms] in
at least 21 ways (Masterman, 1970). As a result of this multiplicity of
usages, there are disputes as to whether cognitive psychology has a paradigm,
whether it is a paradigm, whether it will eventually develop a paradigm,
or whether it already has many (and probably too many) paradigms.»
(Greene, 1992)
-
Frage der Interpretation Kuhns, ob Paradigma oder nicht
-
Wissenschaftliche Revolutionen in der
Empirischen Psychologie
-
Betrachtung von Wundt bis Nationalsozialismus in Deutschland:
Übergang von Elementenpsychologie zu Gestaltpsychologie Revolution
im Kuhnschen Sinne
-
Schmidt, 1981
-
Radikaler Konstruktivismus als neues Paradigma
der Psychologie?
- Stangl, 1989
-
Paradigmen des menschlichen Gedächtnisses
-
Greene: 9 Paradigmen des Gedächtnisses
-
Paradigmen der klinischen Psychologie
-
Davison/Neale 1996
-
Paradigmen von abweichendem Verhalten
Das biologische Paradigma
-
Charakteristikum: Eine psychopathologische Erscheinung wird
mit der Störung eines biologischen Prozesses in einen Kausalzusammenhang
gebracht.
-
spezifische Terminologie ("pathologisch")
-
Entwicklung: MA: Krankheit = Symptome (z. B. Fieber)
-
à innere Fehlfunktionen
-
à Louis Pasteur: Bakterien
- Keimtheorie
-
à Diabetes, Herzkrankheiten
etc. à Keimtheorie-Paradigma in der
Krise
-
wichtigte zeitgenössische Forschungsansätze: Genetik
und Biochemie
-
Bsp. des biologischen Ansatzes: Schizophrenie erbl. prädisponiert
und Dopamin-Hypothese
-
Depressionen: neurale Erregungsleitung gestört
-
letzte Vorlesung: Phänomenalismus vs. Physiologismus
-
Kritik: Man benennt bestimmte Symptome als psychische Krankheiten,
zieht aber dann die Krankheitsbezeichnung als Erklärung heran (z.
B.: Realitätsentfremdung und Hallus = Schizophrenie à
warum? à weil Patient schizophren)
-
Antwort: Man wisse "im Moment noch zu wenig" über die
Ursachen (Kuhn!) (ist auch Kritikpunkt aller anderen Paradigmen)
-
weitere Kritik: bei vielen psych. Krankheiten keine spezifische
Ätiologie noch Symptomatologie
Das psychoanalytische Paradigma
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Charakteristikum: Eine psychopathologische Erscheinung entsteht
aus Problemen des Unbewußten
-
Freud, Erikson
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zahlreiche Kritikpunkte, z. B. Überbetonung der Kindheit
(von Erikson versucht zu modifizieren)
-
Kritik jedoch oft aus Sicht anderer Paradigmen (unmöglich:
Inkommensurabilität)
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z. B.: Erklärung des Traums aus medizinischer Sicht
widerlegt keineswegs Traum aus psychoanalytischer Sicht
Lerntheoretische Paradigmen
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Charakteristikum: Eine psychopathologische Erscheinung ist
genauso erlernt wie die meisten anderen menschlichen Verhaltensweisen
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à Abnormität: relativistischer
Begriff
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Experiment von Langer und Abelson (1974)
-
1 Gruppe von Verhaltenstherapeuten und 1 Gruppe von Psychoanalytikern
in je 2 Untergruppen unterteilt
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Videoband vorgespielt: bärtiger Professor im Gespräch
mit 25-jährigem jungen Mann (Versuchsperson, per Zeitungsannonce gefunden)
-
1. Untergruppe: Stellenbewerber; 2. UG: psychiatrischer Patient
-
Aufgabe: psychische Gesundheit bewerten
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Resultat: Stellenbewerber: gleich bewertet; Patient: von
Verhaltenstherapeuten genauso bewertet wie Stellenbewerber, von Analytikern
wesentlich neurotischer...
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Psychopathologie liegt im Auge des Betrachters!
Resümee
Was hinterläßt uns Kuhn?
-
Konkurrenz aus Nachbarwissenschaften
-
Wir können keinen Mediziner ersetzen...
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Leben mit Widersprüchen - keine Suche nach Objektivität
und absoluter Wahrheit
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Gödel, Einstein...
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Grundlage
bildet das Werk Thomas Samuel Kuhns: "The Structure of Scientific Revolutions"
von 1962.
SEKUNDÄRLITERATUR: Flor, Jan Riis:
Thomas S. Kuhn. Entwicklung durch Revolutionen (in: Hügli/Lübcke:
Philosophie im 20. Jahrhundert); Metzler Philosophie Lexikon; Stangl, Werner:
Das neue Paradigma der Psychologie (Vieweg 1989); Schmidt, Wolfgang: Struktur,
Bedingungen und Funktionen von Paradigmen und Paradigmenwechsel (Lang 1981);
Davison/Neale: Klinische Psychologie (Beltz 1996); Greene, Robert L.: Human
Memory. Paradigms and Paradoxes (Erlbaum Associations 1992)
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